TAZ, 04. Oktober 2021
Neues Zentrum in Hamburg
In Hamburg-Barmbek eröffnet das bundesweit erste genossenschaftliche Probenzentrum für Schauspiel und Tanz. Es wertet die Kulturmeile auf.
HAMBURG taz | Es ist eine lebendige, luftige Kulturmeile geworden: Hier, am Wiesendamm in Hamburg-Barmbek, produzierte von 1917 bis 1972 die Firma Heidenreich & Harbeck, und noch bis 2007 war hier ein Standort des japanischen Teilhabers makino untergebracht. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Heidenreich & Harbeck Waffen hergestellt und mehr als 300 ZwangsarbeiterInnen eingesetzt. Für die Rüstungsproduktion war die Firma so wichtig, dass sie einen Eisenbahnanschluss bekam.
Bise heute nehmen die inzwischen der Stadt gehörenden Gebäude einen halben Straßenzug ein, die Nutzung aber hat sich gewandelt: Kürzlich hat die städtischen Immobiliengesellschaft Sprinkenhof die Sanierung beendet, und nun residieren hier im einstigen Arbeiterviertel das Junge Schauspielhaus, eine Außenstelle der Hochschule für Musik und Theater (HFMT) sowie die „Wiese e. G.“ ein „Theatrales Bildungs- und Produktionszentrum“.
„Es ist die bundesweit erste Genossenschaft, die Proberäume vermietet“, sagt der Dramaturg Andreas Lübbers, Gründer des freien „Sprechwerk“-Theaters, und nun Mitinitiator der Wiese. „Probenräume für die freie Theaterszene fehlen schon lange“, sagt er, und da habe er sich mit einigen MitstreiterInnen eben zur Gründung einer Genossenschaft entschlossen. „Das ist das demokratischste Modell. Unser Ziel ist nicht Gewinnmaximierung, sondern die Ermöglichung günstiger Probenräume.“
Neben dem Ort fanden sich bereits 90 GenossInnen. Auch der Bezirk Nord wollte eine kulturelle Nutzung am Wiesendamm – und erwarb sogar selbst Genossenschaftsanteile. Die Stadt gab Geld, die Sprinkenhof investierte, und die Genossenschaft nahm ein durch die Kulturbehörde abgesichertes Darlehen auf, damit saniert werden konnte.
Lockdown verzögerte Eröffnungsfeier
Am 15. Juni 2020 wurde ein 20 Jahre laufender Mitvertrag geschossen, und die ersten Monate liefen gut, sogar trotz Corona: Mieten für freie SchauspielerInnen und RegisseurInnen waren dank eines Rabattsystems günstig, die Nachfrage entsprechend groß. Dann kam im November der zweite Lockdown. Zwar glich der Rettungsschirm der Kulturbehörde die Verluste aus. Aber eine Eröffnungsfeier habe es nicht gegeben, so Lübbers: „Per Zoom macht das keinen Spaß.“
Also wurde die offizielle Inbesitznahme des Gebäudes jetzt nachgeholt. Das Gebäude ist nicht so schick saniert wie nebenan die HFMT, vielleicht also einer Genossenschaft angemessen: Dezent gekalkt das Mauerwerk, gut sichtbar die Industriearchitektur mit Gängen, Podesten, Eisentreppen. Der schwarz getünchte große Bühnenraum erinnert an Kampnagel, eine gleichfalls für die Kultur geöffnete alte Industriestätte.
Wenn man an einem beliebigen Vormittag hereinschlendert, erklingt im Obergeschoss Klavier, SchülerInnen tanzen, winken kurz, der Regisseur macht sich Notizen. Quer über den Gang, gut schallgedämmt: eine Kita. Weitere Räume haben längerfristig ein Schauspielstudio und die Elbe-Werkstätten bezogen. „Solche festen Mieteinnahmen brauchen wir für unsere Kalkulation“, sagt Lübbers. Außerdem solle dies ein Haus „über alle Grenzen hinweg“ sein. Er träumt sogar von einem Kinderhotel – falls die Eltern mal auf Tournee sind.
Der Großteil der Räume wird aber kurzfristig vermietet, jeweils für halbe Tage. Gern hätte Lübbers auch zahlungskräftige KundInnen, Werbeagenturen etwa, um günstige Räume querzufinanzieren – aber sie seien bislang selten, sagt er.
Kreativgesellschaft sieht keine Konkurrenz
Vielleicht sind das eher die Kontakte der städtischen Kreativgesellschaft, die Immobilien zur Zwischennutzung vermittelt und dafür auch höhere Preise nimmt? „Es ist nicht unser Ziel und auch nicht unsere Aufgabe, mit Immobilien Gewinne zu machen“, sagt Sprecher Jean Rehder. „Wir ermöglichen Räume, versuchen in unseren Aushandlungen mit städtischen und privaten PartnerInnen immer den bestmöglichen Preis auszuhandeln, um Kreativen Räume unterhalb der Marktpreise anzubieten.“
Viele freie KünstlerInnen sagen aber, sie könnten die Preise der Kreativgesellschaft nicht zahlen. Neben Games-EntwicklerInnen, einer Videoproduktion und ModedesignerInnen nennt Rehder allerdings auch freie KünstlerInnen. Eine Konkurrenz sei die Wiese jedenfalls nicht: „Wir sind froh, wenn es für Kreativschaffende so viele Räume gibt wie möglich.“
Das findet auch Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard: „Dieses neue Proben- und Aufführungszentrum ist eine enorme Bereicherung für die freie Szene und bedeutet einen weiteren Aufschwung für unseren Kiez, der sich allmählich zu einem echten Kulturquartier entwickelt.“ Und wenn in ein, zwei Jahren erst ihre eigene, also die Kampnagel-Sanierung beginne, werde sie sicher in der Wiese Räume für Proben und Aufführungen mieten. Andreas Lübbers wird es recht sein – wobei die WIESE ausdrücklich keine weiere Spielstätte sein will, um den bestehenden nicht Konkurrenz zu machen.
Auch die Geschichte des Ortes, die Schicksale der ZwangsarbeiterInnen und den NS-Widerstand im einst „roten“ Barmbek will er – gemeinsam mit dem Jungem Schauspielhaus und der HfMT – zum Thema machen. Am liebsten als Dauerausstellung im Foyer.
TAZ, Petra Schellen, 04.10.2021